„O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn,
o Haupt, zum Spott gebunden mit einer Dornenkrone,
o Haupt, sonst schön gezieret mit höchster Ehr und Zier,
jetzt aber hoch schimpfieret: gegrüßet seist du mir!“ (EG 85,1)
Liebe Gemeinde,
was für ein eindrucksvolles Lied: „O Haupt voll Blut und Wunden“ – grandios getextet von Paul Gerhardt und mit einer wunderschönen Melodie von Hans Leo Hassler, beides aus dem 17. Jahrhundert.
Und dann diese phantastische Interpretation der Berliner Soul-Sängerin Sarah Kaiser, die hier in dieser Kirche ja schon zu Gast war.
Dieses Lied im Ohr, das Kreuz und den in schwarz gehaltenen Altar im Blick und die Gedanken bei dem, der unschuldig leidet und qualvoll stirbt – so erlebe und erleide ich immer wieder den Karfreitag.
„Muss das denn sein?“, fragen sich manche. Wäre es nicht schöner, auf dem Balkon zu sitzen und in die Sonne zu blinzeln? Draußen ist doch so tolles Wetter. Manche fragen sich jedes Jahr, warum sie an diesem Tag denn nicht das machen sollen, was sie sonst auch immer gerne tun: feiern, tanzen, fröhlich sein.
Gut. In diesem Jahr wird die Frage vielleicht nicht so laut und vehement gestellt. Wegen Corona. Wegen dieser unsichtbaren Gefahr durchleben wir ja schon ein paar Wochen lang eine Passionszeit der besonderen Art, manche einen Karfreitag, der nicht nur einen Tag dauert. Leid, Krankheit, Einsamkeit und Tod kommen uns gerade ganz schön nahe. Ja, sie kommen uns immer näher. In den Fernsehbildern aus Norditalien oder New York, in den Berichten aus den Alten- und Pflegeheimen in unserer Umgebung. In den Erlebnissen von Menschen aus unserem Familien- und Freundeskreis. Wann kommen Leid, Krankheit, Einsamkeit und Tod wohl direkt bei mir an?
Was wir sonst erfolgreich verdrängen und von uns fern halten lässt sich in diesem Jahr schlecht ignorieren: unsere Gesundheit und unser Leben sind nicht sicher, nicht selbstverständlich. Nicht wir entscheiden darüber, ob es Krankheit und Leid gibt oder nicht. Der Tod ist allgegenwärtiger Begleiter des Lebens auf dieser Erde. Das nicht wahrhaben zu wollen ist töricht. Zu früheren Zeiten war den Menschen das viel bewusster. Weil sie nicht so „säkular und so medizinisch-technologisch tickten“, wie es diese Tage in einem Zeitungs-Artikel formuliert wurde.
Der Liederdichter Paul Gerhardt lebte zur Zeit des 30-jährigen Krieges. Leid, Krankheit und Tod waren ständige Begleiter der Menschen damals. Verglichen damit ist unsere jetzige Situation – trotz aller Katastrophenmeldungen – immer noch harmlos.
Ich finde, wir sollten zwei Konsequenzen daraus ziehen: erstens unendlich dankbar sein für unseren Wohlstand, unsere Technik, unsere Medizin, unser soziales System… und bitte, bitte aufhören, uns darüber immer noch zu beschweren. Und zweitens: uns davon inspirieren lassen, wie Menschen angesichts von Leid und Tod einen fröhlichen und hoffnungsvollen Glauben haben konnten wie Paul Gerhardt.
Diese Kirche hier steht mitten auf dem Friedhof. Viele stört das, sie haben Schwierigkeiten damit, sich fröhliche Gottesdienste auf einem Totenacker vorzustellen. Doch strahlt mir in dieser Kirche Gottes Liebe noch heller entgegen, weil ich vorher an den Gräbern vorbeigekommen bin. Genauso, wie für mich Ostern erst dann richtig zum Fest des Lebens wird, wenn ich mich vorher dem Karfreitag ausgesetzt habe.
Karfreitag und Ostern gehören zusammen, genau wie der Friedhof und unsere Bergkirche in Lützel-Wiebelsbach. Sich der Realität von Leiden und Sterben auszusetzen sorgt für Bodenhaftung. Sich dann aber anhand der Auferstehungsbotschaft der begrenzten Macht von Leid und Tod zu vergewissern, gibt Hoffnung und Lebensmut.
Die Botschaft von Passion und Ostern lautet: Es gibt Leid und Tod. Aber Gott lässt uns auch im größten Leid nicht allein und schenkt uns die Aussicht auf ein umfassendes Happy End, auf ein Leben nach dem Tod. Amen.